„Es reicht nicht, Tiere vor Leid zu schützen“

Ein freudvolles, gutes Leben – das wünschen sich nicht nur alle Menschen, sondern auch die Tiere. Deutschland stellt gerne seine Vorreiterrolle in Sachen Tierschutz heraus. Doch wie gut schützen Politik und Gesellschaft tatsächlich unsere Tiere in der Landwirtschaft?
Darüber sprachen wir mit Philipp von Gall, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften des Agrarbereichs an der Universität Hohenheim arbeitet. Von Gall,  geb. 1981, lebt und arbeitet in Berlin und Stuttgart. Seine Dissertation „Tierschutz als Agrarpolitik. Wie das deutsche Tierschutzgesetz der industriellen Tierhaltung den Weg bereitete“, die Professor Franz-Theo Gottwald betreut hat, ist im Januar 2016 im transcript Verlag erschienen.

 

Schweisfurth Stiftung: Herr von Gall, in Ihrer Dissertation beschäftigen Sie sich eingehend mit der Deutschen Tierschutzgesetzgebung. Sie beschreiben darin den Grundkonflikt zwischen den Interessen der Tiere und den des Menschen nach wirtschaftlicher Rentabilität, in den der Staat über die Tierschutzgesetzgebung eingreifen muss. Tut die deutsche Politik genug für den Schutz der landwirtschaftlich gehaltenen Tiere?

P. v. Gall: Um das zu beantworten, müssen wir sagen, was Tierschutz ist. Wenn wir darunter eine basale medizinische Versorgung der Tiere verstehen, hat der Staat zumindest die legislativen Mittel, um einzugreifen. Dann geht es „nur“ um die Umsetzung. Wenn wir dagegen sagen, beim Tierschutz geht es darum, den Tieren die Voraussetzung für ein freudvolles Leben zu ermöglichen und umfassende Interessen der Tiere in Politikentscheidungen zu berücksichtigen, fehlen dem Staat die Mittel, da hält er sich ganz raus.

Im deutschen Tierschutzgesetz heißt es gleich zu Beginn im Grundsatz: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Man sollte meinen, das Gesetz enthält damit alles Wesentliche− mangelt es also nur an der praktischen Umsetzung?

Dieser lapidare Grundsatz sagt noch nichts. Das Wesentliche befindet sich in der Philosophie dahinter. Zum Beispiel in den jeweiligen ethischen Grundsätzen und in der Biologie des Geistes der Tiere, die uns helfen soll, Tierleid treffend zu benennen. Das, was beim Bundestagsbeschluss 1972 als Grundkonzeption des Gesetzes genannt wurde, bleibt vage oder basiert auf einer veralteten Biologie der Tiere. Auch die ethische Rolle der Veterinäre und Nutztierethologen ist bis heute ungeklärt. Auf der einen Seite sollen sie angemessene „Mindestanforderungen“ des Tierschutzes beurteilen. Auf der anderen Seite weiß niemand, auf welcher ethischen Grundlage die Abwägung tierlicher und ökonomischer Interessen ablaufen soll, die dafür ja aber erforderlich ist. Außerdem hat der Umgang mit der Frage, ob wir Wohlbefinden oder Tierleid „messen“ können, eine moralische Dimension: Entscheiden wir uns im Zweifelsfall zugunsten der Tiere oder nicht? Das Agrarministerium ist deshalb überfordert, die Mindestanforderungen in der Landwirtschaft umzusetzen− wobei es das nicht offen sagt. Die wenigen festen Mitarbeiter, die zum Tierschutz arbeiten, befragen für ihre Entscheidungen „Experten“. Doch wer sind diese Experten und was ist für sie „vernünftig“? Die Arbeit des Ministeriums ist vollkommen intransparent. Außerdem reicht es im Fall der Tierhaltung doch nicht, Tiere vor Leid zu schützen. Wenn wir ihnen schon ihre Freiheit nehmen, müssen wir ihnen ein freudvolles, interessantes Leben bieten. Menschen, die mit Hunden zusammenleben, machen das normalerweise automatisch. In der wirtschaftlichen Tierhaltung gibt es dafür keinen Anreiz, denn anders als mit der Gesundheit oder dem Wohl der Tiere lässt sich mit ihrer Freude und wirklichem Abwechslungsreichtum noch kein Geld verdienen.

Sie kritisieren, dass die Interessen der Tiere in Deutschland nicht von der Politik, sondern nur von Nichtregierungsorganisationen vertreten werden. Welchen Veränderungsbedarf sehen Sie hier?

Es muss doch eine staatliche Institution geben, die tierliche Interessen vertritt. Der Staat verlangt ja auch nicht von Ihnen, dass Sie sich auf eigene Kosten darum kümmern, wie ihre Interessen in den öffentlichen Entscheidungsprozess gespeist werden. Es gibt für Sie eine staatliche Interessenvertretung, die beispielsweise Abgeordnete wahrnehmen. Auch Tiere brauchen Abgeordnete. Wer das tun soll, und unter welchen Bedingungen, das muss geregelt werden.

Für eine gesellschaftlich akzeptierte Tierhaltung müsste die Subjektivität der Tiere stärker berücksichtigt werden, schreiben Sie. Was genau meinen Sie damit?

Man kann Tiere behandeln wie Maschinen, und man kann sie behandeln wie lebende Subjekte. Die zweite Variante kann uns zum Beispiel dazu auffordern, sie auch als politische Subjekte mit Ansprüchen und Rechten ernst zu nehmen. Tierschutz lässt sich betreiben wie die Wartung einer Maschine. Einzelne Tiere werden zu biologischen Systemen erklärt, die funktionieren oder nicht. Einiges dieser Vorstellung findet sich auch im Konzept „artgerecht“. Warum sollten Tiere leben, wie ihre Art normalerweise lebt? Warum gestehen wir ihnen nicht eine wunderbare Subjektivität zu, die immer dahin strebt, wo es sich gut leben lässt?

Immer mehr Menschen leben vegetarisch oder vegan, achten zunehmend auf Tierwohl beim Einkauf. Reichen diese individuellen Konsumentscheidungen aus, um tatsächlich etwas im System zu bewegen?

Der Veganismus hat das Potential, einen tierpolitischen Umbruch zu befördern. Allerdings beantwortet er noch nicht die Frage, welche Formen tierlichen Lebens er tatsächlich anstrebt. „Wildnis“ ist sicher keine gute Idee. Wie die Bio-Bewegung riskiert auch der Veganismus, den Fokus weg von der Politik hin zur individuellen Kaufentscheidung zu verlagern. Das schafft enormen Druck und führt zu sozialen und persönlichen Spannungen. Strenge staatliche Regeln können uns von der alltäglichen moralischen Last befreien − wenn sie gut sind.

Was kann der Einzelne tun, um die heutigen Verhältnisse in der landwirtschaftlichen Tierhaltung wirksam und nachhaltig zu verändern?

Das kommt auf die Veränderung an, die er oder sie sich wünscht! In einer Demokratie ist es üblich, sich politisch zu engagieren. Wer nicht versteht, was unsere Tierschutzpolitik ausmacht − ich gehörte sehr lange dazu − sollte beim Agrarminister nachfragen, mit welchen Argumenten er die heutige Tierhaltung rechtfertigt. Wichtig dabei ist, sich nicht mit Fachbegriffen abspeisen zu lassen, sondern eine klare moralische Sprache zu verlangen. Und immer schön nachhaken.

Zum Weiterlesen:

Philipp von Gall (2016): Tierschutz als Agrarpolitik. Wie das deutsche Tierschutzgesetz der industriellen Tierhaltung den Weg bereitete. Transcript, ISBN 978-3-8376-3399-3.